James hat heute morgen in der S-Bahn nicht gelesen. Ganz ruhig saß er da, seine große, schwere Statur aufrecht haltend auf dem Ecksitz, auf dem er jeden Morgen sitzt, die Augen geschlossen. Seine Hände lagen in jener Haltung auf seinen Knien, in der er normalerweise seine Bücher hält, die er immer liest. Heute hielten die Hände kein Buch, sondern ein Taschentuch. Er schien sehr, sehr müde. Hin und wieder beim Öffnen der Augen schweifte sein Blick schlaftrunken und leicht erschrocken umher, und schon fielen die Lider wieder nach unten.
Ich fahre diese Strecke nun schon seit zehn Jahren jeden Morgen, ebenso wie James. Nur selten kommt es vor, daß wir uns nicht begegnen, lediglich dann, wenn wir Urlaub haben, aus Krankheitsgründen mal einen Tag nicht zur Arbeit gehen, oder falls einer von uns vielleicht eine Bahn später oder früher nimmt.
Ich habe festgestellt, daß James offensichtlich nur drei Anzüge besitzt. Vielleicht besitzt er auch mehr, aber er trägt nur drei. Seit zehn Jahren. Er bevorzugt erdfarbene Textilien, an denen ein Hauch von Staub haftet, ebenso wie an seinen Büchern, die er wahrscheinlich aus überfüllten, staubigen, düsteren Regalen hervorholt, um sie zum fünfhundertfünfundfünfzigsten Mal zu lesen.
James liest nicht. James studiert seine Bücher. Mit der ganzen Aufmerksamkeit, die er für diese Tätigkeit aufbringen kann. Oft befindet sich ein leicht glänzender Schweißfilm auf seiner Stirn, seine rechte Hand hält das Buch, die linke befindet sich mit dem Zeigefinger neben der Nase, der Daumen liegt unter dem Kinn. Je spannender seine Lektüre ist, es handelt sich hierbei um sehr schwierige Texte von James Joyce, um so starrer verharrt er in seiner Haltung. Dem, was um ihn herum geschieht, schenkt er kaum Beachtung, mal ein kurzer Blick, der lediglich der Station gilt, die gerade angefahren wird.
So wie James seine Anzüge regelmäßig wechselt, wenn auch nur zwischen dreien, so wechselt er auch seine Socken, die wahrscheinlich bereits hundert Mal gestopft worden sind, zumindest lassen darauf die ausgeleierten Bündchen schließen, die ihm grundsätzlich bis auf die Fußknöchel hinab gerutscht sind. Auch hierbei bevorzugt er erdfarbene, wobei sich die ursprüngliche Farbe nur noch erahnen läßt.
Daß James heute nicht wie gewohnt in seine schwierige Lektüre vertieft war, irritierte mich doch sehr. Ob er wohl alle Bände von Joyce gelesen hat, die er besitzt? Deshalb nenne ich ihn übrigens James. Vielleicht ist seine Quelle plötzlich versiegt aus irgendwelchen diffusen Gründen. Mußte er seine Bücher verkaufen, damit er sich die neue Aktentasche kaufen konnte, die er heute neben sich stehen hatte anstatt der alten? Obgleich ich geneigt bin zu glauben, jemand hat sie ihm zu Weihnachten geschenkt. Oder ist seine Frau ganz plötzlich verstorben? Vielleicht hat sie ihm immer die Socken gestopft.
James sah so bedrückt aus, als er dasaß mit geschlossenen Augen.
Eventuell hat er aber auch nur einfach sein Ziel erreicht, alles zu lesen, was es von Joyce gibt, um nun jeden Morgen in scheinbar schlafender Position darüber zu sinnieren, welcher Sinn denn dem Ganzen zugrunde liegt, worüber er gelesen hat. Vielleicht war er auch einfach nur müde, wie man eben manchmal morgens in der Bahn müde sein kann, weil man eine schlechte Nacht hatte. Gerne würde ich mich einmal mit James unterhalten über die Texte von Joyce.
Jetzt weiß ich auch, an wen James mich erinnert. Ich stelle mir vor, mit welcher Freude er sich Zuhause ein Nierchen brät, den an Verwesung erinnernden Duft der Speise genießend, der sich auf alles in der kleinen Küche Befindliche legt und erst nach Stunden vergeht, und wie er zuletzt den ersten Bissen nimmt. Wahrscheinlich liegt seine Frau ebenso wie Mrs. Bloom unpäßlich im Bett, während er, James, das Haus verläßt, um noch schnell einen Brief einzuwerfen, den er, imaginär, seit urdenklichen Zeiten in seiner Anzugjacke mit sich herum trägt.
Manchmal frage ich mich, ob James nur eine Einbildung meiner Phantasie ist. James ist Irländer, vermute ich. Zumindest liest er Joyce im Original. Wer Joyce im Original liest, muß selbst ein Original sein.