Mittwoch, 21. November 2007

Aus dem Tagebuch eines Irrenarztes (3)

James hat heute morgen in der S-Bahn nicht gelesen. Ganz ruhig saß er da, seine große, schwere Statur aufrecht haltend auf dem Ecksitz, auf dem er jeden Morgen sitzt, die Augen geschlossen. Seine Hände lagen in jener Haltung auf seinen Knien, in der er normalerweise seine Bücher hält, die er immer liest. Heute hielten die Hände kein Buch, sondern ein Taschentuch. Er schien sehr, sehr müde. Hin und wieder beim Öffnen der Augen schweifte sein Blick schlaftrunken und leicht erschrocken umher, und schon fielen die Lider wieder nach unten.

Ich fahre diese Strecke nun schon seit zehn Jahren jeden Morgen, ebenso wie James. Nur selten kommt es vor, daß wir uns nicht begegnen, lediglich dann, wenn wir Urlaub haben, aus Krankheitsgründen mal einen Tag nicht zur Arbeit gehen, oder falls einer von uns vielleicht eine Bahn später oder früher nimmt.

Ich habe festgestellt, daß James offensichtlich nur drei Anzüge besitzt. Vielleicht besitzt er auch mehr, aber er trägt nur drei. Seit zehn Jahren. Er bevorzugt erdfarbene Textilien, an denen ein Hauch von Staub haftet, ebenso wie an seinen Büchern, die er wahrscheinlich aus überfüllten, staubigen, düsteren Regalen hervorholt, um sie zum fünfhundertfünfundfünfzigsten Mal zu lesen.

James liest nicht. James studiert seine Bücher. Mit der ganzen Aufmerksamkeit, die er für diese Tätigkeit aufbringen kann. Oft befindet sich ein leicht glänzender Schweißfilm auf seiner Stirn, seine rechte Hand hält das Buch, die linke befindet sich mit dem Zeigefinger neben der Nase, der Daumen liegt unter dem Kinn. Je spannender seine Lektüre ist, es handelt sich hierbei um sehr schwierige Texte von James Joyce, um so starrer verharrt er in seiner Haltung. Dem, was um ihn herum geschieht, schenkt er kaum Beachtung, mal ein kurzer Blick, der lediglich der Station gilt, die gerade angefahren wird.

So wie James seine Anzüge regelmäßig wechselt, wenn auch nur zwischen dreien, so wechselt er auch seine Socken, die wahrscheinlich bereits hundert Mal gestopft worden sind, zumindest lassen darauf die ausgeleierten Bündchen schließen, die ihm grundsätzlich bis auf die Fußknöchel hinab gerutscht sind. Auch hierbei bevorzugt er erdfarbene, wobei sich die ursprüngliche Farbe nur noch erahnen läßt.

Daß James heute nicht wie gewohnt in seine schwierige Lektüre vertieft war, irritierte mich doch sehr. Ob er wohl alle Bände von Joyce gelesen hat, die er besitzt? Deshalb nenne ich ihn übrigens James. Vielleicht ist seine Quelle plötzlich versiegt aus irgendwelchen diffusen Gründen. Mußte er seine Bücher verkaufen, damit er sich die neue Aktentasche kaufen konnte, die er heute neben sich stehen hatte anstatt der alten? Obgleich ich geneigt bin zu glauben, jemand hat sie ihm zu Weihnachten geschenkt. Oder ist seine Frau ganz plötzlich verstorben? Vielleicht hat sie ihm immer die Socken gestopft.

James sah so bedrückt aus, als er dasaß mit geschlossenen Augen.

Eventuell hat er aber auch nur einfach sein Ziel erreicht, alles zu lesen, was es von Joyce gibt, um nun jeden Morgen in scheinbar schlafender Position darüber zu sinnieren, welcher Sinn denn dem Ganzen zugrunde liegt, worüber er gelesen hat. Vielleicht war er auch einfach nur müde, wie man eben manchmal morgens in der Bahn müde sein kann, weil man eine schlechte Nacht hatte. Gerne würde ich mich einmal mit James unterhalten über die Texte von Joyce.

Jetzt weiß ich auch, an wen James mich erinnert. Ich stelle mir vor, mit welcher Freude er sich Zuhause ein Nierchen brät, den an Verwesung erinnernden Duft der Speise genießend, der sich auf alles in der kleinen Küche Befindliche legt und erst nach Stunden vergeht, und wie er zuletzt den ersten Bissen nimmt. Wahrscheinlich liegt seine Frau ebenso wie Mrs. Bloom unpäßlich im Bett, während er, James, das Haus verläßt, um noch schnell einen Brief einzuwerfen, den er, imaginär, seit urdenklichen Zeiten in seiner Anzugjacke mit sich herum trägt.

Manchmal frage ich mich, ob James nur eine Einbildung meiner Phantasie ist. James ist Irländer, vermute ich. Zumindest liest er Joyce im Original. Wer Joyce im Original liest, muß selbst ein Original sein.

Sonntag, 24. Juni 2007

Aus dem Tagebuch eines Irrenarztes (2)

Lars Schenk ist seit sechs Wochen in der Klinik. Ein hochbegabter junger Mann, der seit seiner Pubertät mit dem nicht selten anzutreffenden Zwang behaftet ist, Dinge zählen zu müssen. Zunächst beschränkte sich sein Zwang auf solch harmlose Dinge, die Stufen einer Treppe zu zählen, die er hinaufging. Irgendwann begann er damit, andere Dinge zu zählen. Die Autos, die am Wochenende durch seine Straße fuhren, in der er wohnte, dann die Anzahl der Menschen, die ihm jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit begegneten, oder die Telefonanrufe, die auf seinem Telefon im Büro eingingen. Lars ist Bürokaufmann von Beruf. Er zählte regelmäßig die Büroklammern, die sich in einer neu bestellten Packung befanden.

Zu Beginn seiner Krankheit waren es nur seine Eltern, die von diesem Zwang wußten, später ließ sich seine Krankheit allerdings nicht mehr verheimlichen, da Lars die Ergebnisse seiner Zählungen nicht mehr für sich behalten konnte. Außerdem wurde der zusätzliche Zwang, sein Tun nicht unterbrechen zu können, immer größer, und es kam immer häufiger vor, daß er zu spät im Büro erschien und wichtige Termine einfach platzen ließ.

Seinen Arbeitskollegen und Freunden ging der Büroangestellte immer öfter auf die Nerven mit seinen so unwichtigen Mitteilungen, die zum Beispiel beinhalteten, wie oft einer von ihnen sich bereits geräuspert hatte oder wieviel Sommersprossen jemand im Gesicht besaß. Im Laufe der Jahre wurde die Krankheit bestimmend für den kompletten Tagesablauf des Mannes.

Lars Schenk besteht eigentlich nur noch aus einem Bündel freiliegender Nerven, die ihn bei geringstem Streß an den Rand eines Zusammenbruchs führen. Er zählt alles. Es ist unmöglich, auch nur ein Gespräch mit ihm zu führen, das nicht permanent von einer Bemerkung unterbrochen wird, die die Mitteilung enthält, wieviel Stifte sich auf meinem Schreibtisch befinden, daß in meinem Teppich unter dem Schreibtisch zehn Karos eingewebt sind, oder wie oft sich das Muster auf meiner Krawatte wiederholt. Zu Beginn seiner Therapie waren die Aufzählungen Schenks für mich interessant, weil diese Krankheit ein völlig neues Gebiet für mich ist. Ich machte mir Notizen über seine Ergebnisse, um sie nach den Sitzungen zu überprüfen. Seine Zählungen stimmen auf den Punkt genau. Nur die Anzahl der Erbsen auf seinem Teller beim Mittagessen konnte ich bisher nicht nachprüfen.

Inzwischen allerdings macht mich das Ganze ziemlich nervös. So nervös, daß ich damit begonnen habe, vor den Sitzungen diejenigen Gegenstände aus seinem Sichtfeld zu nehmen, die er durch bestimmte Kriterien in eine Aufzählungsreihe nehmen könnte. Ich achte sogar darauf, daß ich keine Krawatten trage, auf denen sich irgendein Muster wiederholt. Vielleicht behilft sich Lars Schenk nun damit, indem er wahrscheinlich die Falten in meinem Gesicht zählt oder die vom Regen hängen gebliebenen Tropfen auf der Fensterscheibe in meinem Büro. Er hat sich darüber noch nicht ausgelassen. Heute morgen ertappte ich mich dabei, wie ich beim eiligen Hochlaufen in den 2. Stock der Klinik, ich nahm jedesmal zwei Stufen auf einmal, innerlich zählte, zwo, vier, sechs, acht, zehn...

Am Nachmittag rief ich Constantin an, den ich im Augenblick vertrete, weil er sich das rechte Bein brach. Eigentlich ist er der Experte für Patienten, die irgendwelchen Zwängen unterliegen. Als ich ihm davon berichtete, welche Auswirkungen sein Patient bei mir hat, lachte Constantin.

„Ich hatte einmal einen Patienten, der unter einem exzessiven Waschzwang litt“, erzählte er. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich mir damals während seiner Behandlung die Hände wusch. Ich konnte die Bakterien förmlich sehen, die überall darauf lauerten, mich zu befallen. Aber keine Angst, mein Lieber“, versuchte er mich zu beruhigen. „Das verliert sich wieder.“

Rosige Aussichten, dachte ich, hoffentlich heilt der Beinbruch schnell.